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OeGP-Intensivseminar "Recht und Pathologie I" (2002)

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       Rechtsglossar  3


    

Qualitätsstandards auf die Standarte - auch für die Telepathologie?

 *  Gibt es Qualitätsstandards und wer erstellt sie?
 *  Telepathologie oder Telepathie - das ist hier die Frage!

Qualitätsstandards: im Gesetzesrang - potentielle Herausgeber - Wartung - Schutzfunktion

Es gibt verhältnismäßig wenige, i.d.R. recht allgemein abgefasste, in Gesetzesrang erhobene Standards. In Details gehende Standards oder solche in speziell technischen Belangen, die Gesetzesrang aufweisen, gibt es praktisch nicht. Sehr wohl gibt es Verordnungen und Erlässe, die bis ins Kleinste z.B. technische Details in Rechtsvorschriften gießen. Sie rekurrieren häufig auf Experten oder Expertengremien.
    Qualitative, technische u.a. Mindesterfordernisse oder minimal standards of procedure werden am besten durch die eigene Fachgesellschaft, der Österreichischen Gesellschaft für Pathologie (ÖGP), oder durch die entsprechende Fachgruppe für Pathologie bei der Österreichischen und gegebenenfalls bei den einzelnen Landesärztekammern, festzulegen sein. Beispielgebend geschieht dies schon jetzt, wie u.a. die Serie "Qualitätsrichtlinien" der ÖGP zeigt.
     Weiteres zum Qualitätsmanagement wurde im Intensivseminar "Recht und Pathologie II" (2003)  erarbeitet; darüber später mehr.
     Aus rechtlicher Sicht sollten Qualitätsstandards den gerade geltenden, aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaften berücksichtigen (siehe Behandlungsvertrag). Dies erfordert eine ständige Wartung der Standards, ihre zumindest von Zeit zu Zeit erfolgende Neufassung, um den Anschluss an den Fortschritt der medizinischen Wissenschaften nicht zu verlieren.
    Solange nicht in Gesetzes-, Erlass- oder Verordnungsrang erhoben, weisen Vorgaben von Qualitätsstandards durch die Österreichische Gesellschaft für Pathologie etc. keinen Gesetzescharakter auf, sind also im rechtlichen Sinne nicht verbindlich, sie besitzen jedoch eine Art Schutzfunktion: werden Qualitätsstandards durch den Pathologen eingehalten, so tragen sie im Rechtsstreit sicher zu seiner Entlastung bei.

Telepathologie: Definition - statische Telepathologie und ihr Einsatzgebiet - dynamische Telepathologie und ihr Einsatzgebiet - Unsicherheiten im praktischen Einsatz - Qualitätsstandards

Die Telepathologie ist durch die Übertragung  makro- oder mikroskopischen Bildmateriales zum Zwecke der Fernbeurteilung eines Falles (Casus) durch einen Pathologen definiert.
    Unter statischer Telepathologie versteht man die Übertragung von Bildmaterial zwecks Einholung einer Fernbeurteilung durch einen zweiten Pathologen, wobei i.d.R. dem ersten oder sendenden Pathologe die endgültige Beurteilung des Falles obliegt. Das Einsatzgebiet der statischen Pathologie ist  die konsiliare oder supervidierende Begutachtung durch einen zweiten Pathologen. Dabei werden Problemfälle oder Fälle, die regelhaft durch zwei Pathologen begutachtet werden sollen, via Datennetz von zwei oder mehreren Pathologen unter Nutzung eines weiteren Kommunikationskanales (simultan via Datennetz oder Telefon oder sukzessiv via konventioneller Kommunikatikonsmittel wie FAX oder Brief) "diskutiert".
    Unter dynamischer Telepathologie versteht man die Einholung von Bildmaterial von einer peripheren Bildübertragungsstelle zwecks Erstellung einer Diagnose, wobei der Fernbefunder simultan über einen zweiten Kommunikationskanal einem geschulten Helfer (z.B. zweitem Pathologen, MTA, etc.) Anweisungen zur Auswahl des makroskopischen und mikroskopischen Bildmateriales gibt oder geben kann. Das Einsatzgebiet der dynamischen Telepathologie par excellence ist die Gefrierschnittdiagnostik. Manchenorts werden auf diese Weise schon Gefrierschnittdiagnosen erstellt, vor allem dort, wo ein Pathologieinstitut mehrere entfernter gelegene Krankenhäuser gefrierschnittmäßig zu betreuen hat, eine beliebige Aufstockung der Pathologenzahl aber wirtschaftlich nicht möglich ist oder sich aus anderen Gründen nicht lohnt.
    In Österreich besteht seitens der Pathologenschaft noch Unsicherheiten hinsichtlich der Einsetzbarkeit der statischen, aber vor allem der dynamischen Telepathologie. Um nur einige Fragen der Haftung und Qualität zu nennen: Wer haftet im Beratungs-, Konsiliar- und Supervisionsfall? Leidet unter dem Einsatz dynamischer Telepathologie die Gefrierschnittdiagnostik, steigt die Fehlerrate bei Gefrierschnitten? Wer haftet bei derartigen Fehlern?
    Alle mit der Telepathologie in Zusammenhang stehenden Fragen sollten aus rechtlicher Sicht in der Fachgesellschaft beraten werden; die Ergebnisse dieser Beratungen sollten in die Ausarbeitung qualitativer Mindeststandards zur Telepathologie ausmünden.

    

Körperteil - Rechtsgeschichte mit Zukunft?

 *   Percival's "A Code of Ethics" - und die Folgen?
 * 
Ein österreichisches k.k. Hofdekret - und die Folgen?
 *  Der Fall HeLa - ein weltpolitisches Debakel?
 *  Der Fall John Moore - ein pharmaindustrielles Debakel?
 *  Der Fall Alder Hey - ein europäisches Debakel?
 *  Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin (MBR) des Europarates - ein rechtsgeschichtlicher Paradigmenwechsel?

Thomas Percival's "Code of Ethics" von 1794/1803: Thomas Percival - "moralische Regeln" - PatientenumgangKollegenumgang - Fortbildung als Pflicht - Zusammenfassung - Individuum und Staat - Einflüsse - Fortwirkung

Der englische Arzt und Philosoph Thomas Percival (1740 - 1804) erarbeitete in seiner Heimatstadt Manchester eine n ärztlichen Verhaltenscode, welcher in den dortigen ärztlichen Zirkeln kursierte. Die kleine Schrift des auch im Sozial- und Gesundheitsbereich seiner Stadt engagierten Mediziners erschien erstmals in London 1803 unter dem Titel "Medical Jurisprudence; or, A Code of Ethics and Institutes Adapted to the Professions of Physic and Surgery" und erlebte 1827 und 1849 in London, 1823 sogar in Philadelphia weitere Auflagen.

Im Kapitel "Section II: Of Professional Conduct in Private, or General Practice" beschreibt er "moralische Regeln" des Verhaltens, die gleicherweise im Spital wie im niedergelassenen Bereich gültig sein sollen.
   Jedem Patient solle mit Aufmerksamkeit, Stetigkeit und Menschlichkeit begegnet werden, unabhängig davon, ob sein Leiden ihn schon unduldsam und empfindlich habe werden lassen. Verschwiegenheit erscheint Percival in allen Fällen speziell in Hinsicht auf Ehrhaftigkeit und Verpflichtetheit gegenüber dem Patienten angeraten. Weitschweifige Prognosen werden verdammt. Im Falle einer bedrohlichen  Verschlechterung des Gesundheitszustandes solle diese den Freunden des Patienten, ja dem Patienten selbst, zeitgerecht angezeigt werden, falls möglich durch eine andere Vertrauensperson, aber nicht dem behandelnden Arzt selbst, denn: der Arzt als Hoffnungsträger solle auch in der Stunde des Todes die körperlichen Begleitumstände in glaubhafter Weise so erträglich wie möglich machen.
    Ein Hineinpfuschen in ärztliche Bemühungen eines anderen Kollegen solle tunlichst vermieden werden, nicht zuletzt, weil das Vertrauen in den Erstbehandler dadurch leide. Allerdings mache z.B. mangelnde Sorgfalt ein beherztes Eingreifen nötig unter der Voraussetzung, dass die Motive des Eingreifenden lauter, ehrenhaft und sachlich wohlbegründet sind und nicht auf irgendwelchen Spekulationen beruhen. Dabei sei das kollegiale Gespräch zu suchen, es habe einem Gespräch mit dem Patienten oder dessen Familie voranzugehen, falls dieses überhaupt nötig ist. Im kollegialen Gespräch walte Zurückhaltung und Respekt vor dem anderen Kollegen so weit als möglich. Gegenseitige Konsultationen in schwierigen oder sich hinziehenden Fällen sollen geradezu gefördert werden, da sie zu mehr Einsicht und Sicherheit in Diagnostik und Therapie führen. Auch hier ist dem Erstbehandler Respekt und Zurückhaltung zu zollen. Der hinzugezogene Kollege solle sich auf das Nötige an Konsultation beschränken, z.B. die Zahl der Visiten so klein wie möglich und so häufig wie gerade nötig halten. Vor dem Patienten sollen theoretische Erörterungen unterbleiben, da sie zur Verunsicherung führen. Regelmäßige akademische Ausbildungen erhielten die ärztlichen Fähigkeiten.

Das Kapitel verdeutlicht Percival's Respekt vor dem Patienten als Mensch, vor seiner Familie, seinen Freunden und vor den ärztlichen Kollegen im Fachlichen wie im Menschlichen. Auch die Forderung nach ständiger Fortbildung als Voraussetzung ärztlicher Berufsausübung, sei es im Rahmen gegenseitiger Konsultationen, sei es auf akademischem Boden, bleibt unmissverständlich.

Es fällt auf, dass in dieser Schrift der Staat als Gestalter ärztlichen Wirkens, als Regulator der Arzt-Patienten-Beziehung und als Organisator wissenschaftlichen Forschens keine Rolle spielt. Arzt und Patient bzw. Arzt und Arzt treten sich in den jeweiligen Beziehungen als "freie Menschen" gegenüber, die in gegenseitigem menschlichen Respekt voreinander vernunftbasiert miteinander umgehen. Forschung beruht auf dem durch kritischen Einsatz von Sinneswahrnehmungen erworbenen Wissen. Es beruht eben nicht auf Enthüllungen irgendwelcher hinter der Realität - im Metaphysischen - angesiedelten Ideen.
    Eines obrigkeitsstaatlichen Eingreifens bedarf es da offenbar nicht. Was Wunder, wirkt doch John Locke's (1632 - 1704) liberalistische Staatstheorie mächtig im englischen Königreich und seinen - eben u.a. deshalb - rebellierenden amerikanischen Kolonien fort; sie redet einer konstitutionellen, demokratisch kontrollierten Monarchie das Wort: Gewaltenteilung, persönliche Freiheit, gleiches Recht für alle und das Recht auf Eigentum sind Grundelemente der politischen Auffassung Locke's, die erst später im modernen Verfassungsstaat verwirklicht, die aber auch in Percival's "Ethik" spürbar werden.
    Was Wunder weiter, wenn der Königssitz London mit den ersten medizinischen Adressen des Königreichs erster Publikationsort der kleinen, zunächst für den privaten Kollegenkreis gedachten Schrift wird und von dort ihren Siegeszug in die angloamerikanische Welt antritt.
Vieles, was in Percival's "Ethik" im Detail beschrieben wird, mutet modern an und findet sich sinngemäß z.B. im österreichischen Patientenrecht wieder. Tatsächlich bildet Percival's "Ethik" den Grundstein medizinethischer Entwicklungen vor allem in Großbritannien und Amerika bis auf den heutigen Tag.

    

Das Dekret der Studien-Hofkommission Österreichs von 1813: Errichtung anatomisch-pathologischer Cabinette - Zweck - Zentralverwaltung - Verantwortlichkeit und Sanktionen - Kostenregelungen - Vorsichtsmaßnahmen - Einflüsse - Fortwirkung

Im "Decret der Studien=Hofcommission vom 18. October 1813 an sämmtliche Länderstellen" (siehe dessen Faximile als pdf-Datei) wird in 17 Paragraphen die "Errichtung und Erhaltung anatomisch=pathologischer Cabinette" geregelt. Demnach soll an jedem "medicinisch=chirurgischen Lehr=Institute ... nach Thunlichkeit und Gelegenheit ein anatomisch=pathologisches Cabinett eingerichtet, und das bestehende vermehrt werden". Dabei sind "die Professoren der Anatomie ... von Amts wegen verpflichtet, instructive Präparate zu verfertigen, und überhaupt alles Merkwürdige, welches bei den Demonstrationen an den Leichnamen sich darbiethet, zu sammeln, und in die Cabinette abzuliefern. ... Die Professoren der practischen Medicin, Chyrurgie und Geburtshülfe sind verbunden, in allen Fällen, in welchen an ihren Cliniken, oder in den ihnen anvertrauten Spitälern und Gebärhäusern die Gelegenheit sich darbiethet, merkwürdige anatomisch=pathologische Stücke, Spiele der Natur u.s.w. zu erhalten, dieselben selbst oder durch ihre Assistenten gehörig zu sammeln, und an die Cabinette abzugeben. ... Die Kreis= und Bezirksärzte, die Kreis=Wundärzte, die Spitals=Ärzte und Wundärzte sind aufzufordern, alle Spiele der Natur, Mißgeburten, merkwürdige anatomisch=pathologische Stücke u.s.w., welche ihnen vorkommen, gehörig verwahrt an die Universität oder das Lycäum des Landes einzusenden ..."

Dies geschah aber nicht zum Selbstzweck, denn: "Ein jeder Professor der Heilkunde kann von dem, was in den Cabinetten vorfindig ist, mit Beobachtung der gehörigen Vorsichtsmaßregeln bey dem Lehrvortrage Gebrauch machen." 

Damit dem Staate auch ja nichts an diesem hochgeschätzten Wissen in Form von Sammlungsgut entging, wurden die "Cabinette" zentralistisch verwaltet: Sammlungsverzeichnisse, Meldungen über Sammlungseingänge, -ausgänge, Schwund mussten an übergeordnete Verwaltungseinheiten, speziell an den "Studien=Director (für Oesterreich, Vice=Studien=Director)" gemeldet werden. Diese hatten zudem die Cabinette von Zeit zu Zeit zu visitieren, um sich von derem tadellosen Zustand persönlich und verantwortlich zu überzeugen. Verwalter und Nutzer dieser "Cabinette" sollten nicht nachlässig mit den Sammlungsstücken umgehen, sie also ohne Schäden dem Staate erhalten, deshalb wurden sie persönlich für deren Erhaltung verantwortlich gemacht. Dies ging soweit, "nach dem Ableben eines Professors ...  alsogleich (durch den Studiendirector, Anm.) dasjenige zu übernehmen und zu untersuchen, was der Aufsicht des verstorbenen Professors anvertrauet war, und über den Befund ... Bericht zu erstatten, welche im Falle eines Abganges im Wege Rechtens von dem Vermögen des Verstorbenen die gebührende Entschädigung hereinzubringen haben wird".

Der so wissensbegierige Zentralstaat ließ sich die Cabinette auch etwas Kosten, denn: "Die hierzu erforderlichen Kosten auf Kästen, Gläser, Weingeist, Instrumente u.s.w. hat der (öffentlich dotierte, Anm.) Studienfond zu tragen" und: "Professoren und andere, welche durch Bereicherung der Cabinette sich auszeichnen, haben Anspruch auf angemessene Belohnungen."

Allerdings und um einen schwunghaften Handel mit Präparaten, instruktiven Leichenteilen u.s.w. zu vermeiden, wurde ausdrücklich angeordnet: "Ankäufe für die Cabinette können nur nach ... bey der Studien=Hofcommission angesuchter und erhaltener Bewilligung Statt finden."

Die Regelungen des Dekretes von 1813 manifestieren den Willen zur staatlichen Förderung von pathologisch-anatomischen Sammlungen zu Lehr- und Forschungszwecken unter Wahrung hierarchischer Machtverhältnisse. Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716), seine Monadenlehre vom Leben "in der besten aller Welten" unter der Vorherrschaft einer von Gott in geistige Gesetzlichkeiten gegossenen "prästabilierten Harmonie", ist noch in den Köpfen der Herrschenden: die Welt als bloße Erscheinung, der Geist als das einzig Reale, die göttliche Harmonie als einzig Gültiges, nur rein geistig-vernünftig Erkennbares, die Obrigkeit als Vertreter des Geistig-Vernünftig-Göttlichen im absolutistischen Staat als angemessene Staatsform.
    Als Kinder ihrer Zeit sind Boerhave (1668 - 1738), van Swieten (1700 - 1772) und Maria Theresia (1740 - 1780 Regierungszeit), Johann Peter Franck (1745 - 1821) und Kaiser Joseph II. (1880 - 1888 Regierungszeit) vom Leibniz'schen Denken mehr weniger beeinflusst, und so strahlt dieses Hofdecret ein Gemisch aus aufgeklärter Gesinnung und Absolutismus aus, in dem der Einzelne, gehört er nicht zur Obrigkeit, nicht viel bedeutet. Im Obrigkeitsstaat haben der einzelne Patient oder seine Angehörigen nichts mitzureden, wenn es um des Merkens und Aufbewahrens würdige Operations- oder Leichenöffnungspräparate, ja selbst um Leichname in toto geht. Das Interesse des Staates - ganz im Sinne einer wissbegierigen "medicinischen Polizey" (Johann Peter Franck) - hat dabei Vorrang vor dem Interesse des Individuums und seiner Familie. Selbst Pietätfragen werden beiseite geräumt, wenn z.B. Missgeburten in toto gesammelt und somit einer Bestattung entzogen werden. Die französische Revolution und die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte vom 17. August 1789 marschieren fürs Erste an Wien scheinbar spurlos vorüber, Metternich und die Restauration lassen grüßen ...

Wirkte diese Haltung, diese Einstellung noch lange im Nachhinein weiter? Ist nicht das Bundesmuseum für Pathologie in Wien u.a. auch Frucht solchen Sammelns? Hatte die Anlage der Hirnpräparate im Steinhof nicht seine entfernten Wurzeln z. T. in solchen Anordnungen? Manifestieren sich nicht Reste dieser Hofdecret-Gesinnung im Obduktionspassus des Krankenanstaltengesetz aus dem Jahre 1955? Und wenn ja, finden sie sich nicht zu recht in einer dort reduzierten und modifizierten, vernünftigen Form wieder? Was aber bedeutet dies dann im Umgang mit Leichnamen von Verstorbenen bei Obduktionen heute?

Der Fall HeLa: Vorgeschichte - Kennedys Mondfahrt und Nixons Krebskampf, kalter Krieg und großer Flopp, bitteres Ende und endgültiger Sieg

An die zwei Jahrhunderte später und in anderem Land und Kontinent werden ähnliche Fragestellungen Anlass gerichtlicher Prozesse und  Urteile, die nicht möglich geworden wären, hätte das Individuum, der Einzelne nicht einen höheren Stellenwert errungen: der Staatstheoretiker und Aufklärer Charles de Montesquieu (1689 - 1755), Wegbereiter der französischen Revolution, die "Declaration of Independance", Washington 1776, die amerikanische Verfassung, Philadelphia 1787/1788, und die "Déclaration des droits de l'homme et du citoyen", Paris 1789, lassen sehr wohl grüßen, und das ist - nach einer Reihe enormer Geschichtskatastrophen - sehr zu begrüßen.

Blenden wir zurück in das Amerika der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Kennedy hatte sich die Eroberung des Mondes durch den Menschen auf seine wissenschaftspolitischen Fahnen geschrieben und - wenn auch posthum - 1969 reüssiert. Nixon wollte es ihm gleich tun, aber auf einem anderen Gebiet: die Krebskrankheit sollte besiegt werden.
    So wurden immense Summen in diverse Krebsforschungsprogramme gesteckt. Dabei spielten jene  Krebszellen eine immer prominentere Rolle, die man Jahre zuvor einer krebskranken Frau namens He. La. entnommen hatte. Diese HeLa-Zellen ließen sich ihrer biologischen Aggressivität halber leicht kultivieren, sie waren im wahrsten Sinne des Wortes nicht umzubringen.
    Es herrschte kalter Krieg zwischen Washington und Moskau. So war es nicht erstaunlich, dass auch die Russen, die bis zu Kennedys Zeiten federführend in der Weltraumforschung gewesen waren, plötzlich begannen, groß in die Krebsforschung einzusteigen in der Hoffnung, ihrer Schmach, den Mond nicht als Erste betreten zu haben, durch bahnbrechende Erkenntnisse auf medizinischem Gebiet etwas entgegenzusetzen. Und mit einem Mal hatten auch sie eine Kultur von "unsterblichen" Krebszellen, an denen sie allerlei Bedingungen und vor allem Erreger vorzufinden glaubten, die sie mutmaßen ließen, sie seien die Ursache der krebsigen Entartung ihrer Zellkultur. Tatsächlich fanden die amerikanischen Wissenschaftler Ähnliches.
    Die Presse wird hellhörig. Nahezu täglich wird über neue Entdeckungen in der Krebsforschung berichtet. Auch Nixon ist von den Ergebnissen so enthusiasmiert - teils aus innenpolitischen Gründen, denn Watergate wirft bereits erste Schatten -,  dass alle politischen Hemmnisse überwunden werden und sich eine amerikanische und eine russische Expertenkommission trifft, um Forschungsergebnisse auszutauschen. Aber, ach, nur mit Mühe gelingt es der Nixon-Administration der Presse vorzuenthalten, dass sich alle Forschungsbemühungen als großer Flop entpuppt haben: es wird nämlich bald klar, dass die Zellen der Amerikaner und die der Russen einer einzigen Zelllinie entstammen - es sind HeLa-Zellen! - und die vermeintlichen Erreger etc. stellen nichts als Artefakte dar.
    Das Krebsforschungsprojekt mitsamt Russen verschwindet still und leise aus dem Blickfeld der  Öffentlichkeit, deren Interesse im Übrigen mehr und mehr vom Watergate-Skandal gefesselt wird.  Nixon, zum Opfer seiner Watergate-Machenschaften geworden, verschwindet schließlich 1974 selbst von der Bühne der Weltpolitik.
    Nicht verschwinden aber die Angehörigen der verstorbenen Zellspenderin HeLa.: aufgescheucht durch die zahlreichen Pressemeldungen informieren sie sich allen Widerständen zum Trotz, die sich ihnen auch auf Grund ihrer Hautfarbe (es waren African Americans) in den Weg stellen, über das, was ihrer Verwandten und deren Zellen widerfahren ist. Nach zahlreichen Einsprüchen und Interventionen erhalten sie nach Jahren eine Art Wiedergutmachung in Form eines größeren Geldbetrags. 

Der Fall John Moore: die Millionenklage und ihre Vorgeschichte, Nachuntersuchungen mit Überraschungseffekt, richterliches Machtwort und Pharmaindustrie, offenes Ende und Geld, der Fall John Moore in Österreich und der gordische Knoten

Etwa eineinhalb Jahrzehnte später fällt etwas vor, das abermals die amerikanischen Gerichte beschäftigen wird: der Fall John Moore. DDDR. Steiner berichtet:

"In den USA trug sich 1990 ein Rechtsstreit zu, in dem der Patient von seinem behandelnden Arzt und zwei Pharmaunternehmen Zahlungen in Millionenhöhe verlangte und dies damit begründete, dass Arzt und Pharmaindustrie ohne seine Zustimmungen Zellen seines Körpers kultiviert und daraus ein Arzneimittel hergestellt hätten. Der Patient forderte eine Beteiligung an den Umsätzen, die zum Zeitpunkt der Klage bereits das Ausmaß von mindestens drei Milliarden US-Dollar erreicht hatten.
    Dem Geschäftsmann John Moore musste in der Universität Los Angeles (UCLA) auf Grund seiner Leukämieerkrankung die Milz entfernt werden. Die Operation verlief erfolgreich, John Moore wurde geheilt.
    Später fand John Moore allerdings heraus , dass die Ärzte bereits vor der Milzentnahme die begründete Vermutung hatten, seine Zellen könnten möglicherweise einzigartig sein. Aus diesem Grund wurde die Milz einer Spezialuntersuchung unterzogen, bei der sich herausstellte, dass bestimmte Blutkörperchen zur Produktion eines für das Immunsystem wichtigen Proteins eingesetzt werden konnten.
    Die Zellen aus dem Körper von John Moore wurden weiterkultiviert und - auf der Basis eines inzwischen erworbenen Patents - in großem Umfang wirtschaftlich genutzt.
    John Moore wusste davon nichts. Ihm war vor der Entnahme der Milz und auch später nichts über die wissenschaftlichen und kommerziellen Hintergründe gesagt worden.

Nach der Operation wurde John Moore noch sechs Jahre lang zu Nachuntersuchungen nach Los Angeles bestellt. Dabei wurde ihm Blut abgenommen - angeblich um zu kontrollieren, ob die Leukämie nicht erneut ausgebrochen war. In Wahrheit besorgte man sich aber bei dieser Gelegenheit - wiederum ohne ihn darüber aufzuklären - auch Nachschub an seinen besonderen Zellen.
    Als John Moore zur Vermeidung der für ihn immer sehr langen Anreise nach Los Angeles vorschlug, die Blutabnahme in seiner Heimatstadt durchführen zu lassen, erklärte sich die UCLA plötzlich bereit, seine Flugkosten zu erstatten und ihm darüber hinaus sogar noch ein Taggeld zu bezahlen.
    Für amerikanische Verhältnisse war das ein so bemerkenswertes Angebot, dass John Moore erstmals misstrauisch wurde. Als man ihm dann auch noch ein Formular vorlegte, wonach er alle Rechte an seinen Zellen an die UCLA abtreten sollte, begann er die Angelegenheit endgültig zu durchschauen.
    Obwohl die Ärzte auf seine Frage, ob denn seine Zellen überhaupt einen Wert hätten, entrüstet antworteten, dass die UCLA keine Geschäfte mache, sondern damit nur reine Forschung betreibe, war das Misstrauen von John Moore nun so groß, dass er einen Anwalt beauftragte, der den Sachverhalt aufdeckte und Klage erhob.

Das oberste Gericht in Kalifornien fällte in der Rechtssache Moore insofern eine wichtige Grundsatzentscheidung, als es befand, dass ein Arzt alle persönlichen Interessen, die - unabhängig von der Gesundheit des Patienten - Einfluss auf sein ärztliches Vorgehen haben könnten, zu offenbaren habe (Forschungsinteressen ebenso wie ökonomische Interessen). Unterlässt der Arzt die Offenlegung solcher Interessen, komme dies der Durchführung einer medizinischen Behandlung ohne Einwilligung des Patienten bzw. der Verletzung der vertraglichen Treuepflichten des Arztes gleich.
    Das Urteil wurde zunächst lediglich auf dem Tatsachenvortrag des Klägers gefällt, ohne dass dessen Wahrheitsgehalt geprüft worden wäre.
    Der Fall erregte weltweit Aufsehen. Und die Pharmaindustrie sah nicht ohne Grund schon bald eine Prozesslawine auf sich zukommen.

Aus prozessualen Gründen nicht Stellung nehmen konnte das Gericht zur brisanten Frage der Rechtsfolgen, also dazu, welche Geldansprüche ein Patient in einem solchen Fall geltend machen kann.
   
Erst in einer neuen Prozessrunde hätte Beweis darüber erhoben werden können, ob die Behauptungen des John Moore überhaupt zutreffend waren. Zu dieser neuen Prozessrunde (und damit zu einer höchstrichterlichen Klärung auch der Rechtsfolgenfrage) ist es aber nicht mehr gekommen, weil John Moore seine Klage nicht weiterverfolgt hat.
    Der Grund dafür war, dass es noch vor der nächsten Gerichtsrunde zu entsprechenden Ausgleichzahlungen gekommen ist, die John Moore veranlasst haben, seinen Fall nicht weiter zu betreiben."

DDDr. Steiner führt für die österreichische Situation weiter aus:

"Auch in Österreich wird allgemein davon ausgegangen, dass sich der Arzt nicht von eigennützigen, auf Gewinnerzielung gerichteten Motiven leiten lassen darf. Im Rahmen eines Behandlungsvertrages entsteht ein besonderes Vertrauensverhältnis, das ein "ökonomisches Mitdenken" des Patienten ausschließt, während er bei anderen Vertragsverhältnissen mit typischerweise ökonomischer Basis das Bewusstsein hegt, am Wirtschaftsleben teilzunehmen. Aus dem Behandlungsvertrag folgt, dass der Arzt - vom Honorar abgesehen - aus der Behandlung keinen unmittelbaren ökonomischen Vorteil ziehen darf. Dies schlägt möglicherweise auf die Bewertung eines entgeltlichen Vertrages zwischen Arzt und Pharmaindustrie zur Verwertung von Patientenmaterial und Patientendaten durch:

Man könnte hier nämlich den Standpunkt vertreten, dass dieser entgeltliche Vertrag zur Verwertung von Patientenmaterial und Patentendaten mangels Zustimmung des Patienten sittenwidrig und daher nichtig ist.
    Das würde dem Arzt vorbeugend den ökonomischen Anreiz zu medizinisch nicht indizierten Behandlungsmaßnahmen nehmen, was der Aufklärungsproblematik und der Effektuierung eines Verbotes Rechnung tragen würde."

Der Fall John Moore thematisiert in der Art eines gordischen Knotens verschiedene komplexe Problembereiche im Verhältnis zwischen Arzt und Patient, z.B.: den Behandlungsvertrag - die Aufklärungspflicht seitens des Arztes - die Möglichkeit zur Zustimmung durch den Patienten - das Vorenthalten wahrer Absichten des Arztes dem Patienten gegenüber; die Entnahme von Körpermaterialien (Körpersubstanzen oder - teilen) - die wirtschaftliche Verwertung dieser Körpermaterialien zum Zwecke der Gewinnerzielung.

Der Fall Alder Hey - Österreich: was nun?

Etwa ein halbes Jahrzehnt später wird England Schauplatz einer heftig geführten Auseinandersetzung um Rechte an Körperteilen, diesmal aber um solche von Verstorbenen. Die Angehörigen steigen auf die Barrikaden, die Zeitungen schlagzeilen, die Fachgesellschaften überschlagen sich geradezu mit Richtlinien, ethischen Leitlinien und ähnlichem. Was war geschehen?

Die dazu aufschlussreichen Berichte der "BBC News online" und des Guardian seien hier in Kürze wiedergegeben: über Jahre hatte an dem Kinderspital von Alderhey in Liverpool, England, der Chefpathologe Foeten, Neugeborene und Kinder obduziert und dabei jeweils praktische alle Organe, diverse Gewebe und einzelne Körperteile (darunter Augen und ganze Köpfe) entnommen und aufgehoben. Die Eltern blieben über dieses Vorgehen unaufgeklärt oder wurden fehlinformiert. Nachfragen von Angehörigen zu Todesursachen und Erkrankungen blieben praktisch unbeantwortet, häufig lag gar kein Obduktionsprotokoll vor. So kam der Stein ins Rollen: die Hinterbliebenen drängten auf die Herausgabe von Obduktionsprotokollen und enthüllten allmählich das Vorgehen des Chefpathologen. Eine Kommission wurde gegründet, die nach langen Befragungen und Untersuchungen zum Schluss kam, es seien u.a. die Rechte der Hinterbliebenen auf das Gröblichste verletzt worden, und dies nicht nur im Falle Alder Heys, sondern auch in ähnlicher Weise im Falle anderer englischer Spitäler, speziell im Fall des Kinderkrankenhaus "Bristol Royal Infirmary". Der Chefpathologe des Kinderspitals von Alder Hey wurde entlassen. Die englische Gesundheitsbehörde, das National Health System, suchte nach Vorschriften im Umgang mit bei der Obduktion entnommen Organen und Geweben, zahlreiche ethische Leitlinien dazu wurden publiziert. Der Vorfall ist in die Geschichte des englischen Gesundheitssystems unter dem Namen "Organskandal von Alder Hey" eingegangen. (siehe auch unter "Links" dieser Site).

Irgendwie mag diese Geschichte an das Vorgehen eines sammeleifrigen österreichischen Professors zu Beginn des 19. Jahrhunderts erinnern, welcher nichts anderes im Sinne hat, als das "anatomisch-pathologische Hofcabinett" um interessante Präparate zu erweitern ... 

Und Österreich heute - könnte es einen Fall Alder Hey in Österreich geben? Dazu später mehr, wo wir uns der Frage widmen:  "Wo ist nur die Niere geblieben?"  und dabei den gesetzliche Grundlagen der bspw. Obduktion nachgehen werden.

 

Die Entwicklung der speziellen Rechtsgeschichte hinsichtlich Entnahme und Aufbewahrung von Organen, Geweben, Körperteilen etc. zeigt eines: es besteht ein enormes Spannungsfeld zwischen individuellen, Angehörigen-, menschenrechtlichen und schließlich staatlichen bzw. öffentlichen Interessen.

 

Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin (MRB) des Europarates: Artikel 22 - Artikel 21 - Paradigmenwechsel

Der Europarat versucht, diesen Problemkomplex in der Art des Durchhauens eines gordischen Knotens zu regeln, wenn er am gegebenen Ort ausführt:

Artikel 22 Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin (MRB) des Europarates:

Wird bei einer Intervention ein Teil des menschlichen Körpers entnommen, so darf er nur zu dem Zweck aufbewahrt und verwendet werden, zu dem er entnommen worden ist; 

jede andere Verwendung setzt angemessene Informations- und Einwilligungsverfahren voraus.

Der Europarat versucht zudem die wirtschaftliche Problematik in den Griff zu bekommen, wenn er am gegebenen Ort regelt:

Artikel 21 Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin (MRB) des Europarates:

Der menschliche Körper und Teile davon dürfen als solche nicht zur Erzielung eines finanziellen Gewinns verwendet werden. 

In Rückblick zu Percival's "Ethik" und zum österreichischen Hof-Studiendekret 1813 zeigt sich in der darauffolgende Rechtsgeschichte bis in die jüngste Vergangenheit hinein ein deutlicher Wandel hinsichtlich der Rechtsstellung des Einzelnen im Allgemeinen und in Bezug zu Körperteilentnahmen. Dieser Wandel ist im festländisch-europäischen Bereich stärker ausgeprägt als im angloamerikanischen.
    Ein Paradigmenwechsel - Rückstufung des Staates und Aufwertung des Individuums - ist eingetreten, der sich künftig auch in Österreich in einem derzeit in Diskussion stehenden MRB-Analogon widerspiegeln soll. In dieses sollen die in dem Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin (MRB) des Europarates gesatzten Rechtsvorschriften mehr oder weniger wortgleich übernommen werden, das gilt voraussichtlich insbesondere für die Artikel 21 und 22 des Menschenrechtsübereinkommens zur Biomedizin des Europarates.


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(C) and last Update (1. Fassung): 2002.04.04 by M. Schüller (Mitglied des OeJC)